In mittelalterlichen Handschriften und in frühneuzeitlichen Drucken finden sich vielfältige Kombinationen von Wort, Bild und Zahl, die auf die Hand Gottes zurückverweisen, aber auch die entwickelten (Mnemo-) Techniken der Scriptoralität einsichtig machen: den Zusammenhang von 'zählen' und 'erzählen', die indexikalische Vermittlung von Text und Bild. Das Projekt hat in seiner ersten Bewilligungsphase versucht, Hand und Zahl als Operatoren der Gedächtnistechnik darzustellen, die 'verborgene' Zahl in Text und Bild zu untersuchen und die numerische Verknüpfung von Text und Bild als eine Vorform technologisch vermittelter Audiovisualität einsichtig zu machen.

In der zweiten Bewilligungsphase und Neuausrichtung des Projekts "Die Lesbarkeit der Welt. Hand und Wort - Hand und Technik" soll es darum gehen, die Loslösung der Symboltechniken vom Körper als Vorbedingung ihrer technischen Umsetzung als Ordnungsinstrumente zu analysieren, damit aber auch ihre Bindung an den Körper, insbesondere an die Hand. Der Projektleiter untersucht den Zusammenhang von Hand-schrift und Hand-werk (poiésis und techné), vorwiegend an Handgebärden in weltlichen und religiösen Text- und Bildzeugnissen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Im Fokus unserer Aufmerksamkeit stehen nun die Handlungen/ Handhabungen, die in Text und Bild sichtbar gemacht werden, wobei die Distribution des Wortes und ihre technische Visualisierung (unter Verwendung von Bild, Schrift und Zahl) unser eigentliches Thema ist. Das Projekt will damit Bausteine für eine Geschichte der Kulturtechniken des Lesens, Zählens und Zeigens liefern.



Arbeitsprogramm

Die Verbindung von Hand und Schrift wird von den mittelalterlichen Zeitgenossen aus der "Lesbarkeit der Welt" erklärt: Der Mensch selbst ist ein kleiner Teil der Zeichenwelt, die Gott erschaffen hat. Die Zahlen, die seinen Händen, seinem Kopf und seinen Gliedern von Gott eingeschrieben sind, werden deshalb Ausgangspunkt für eine symbolische und messende Erschließung und Darstellung 'von Welt'.

Schon im Rahmen der Manuskriptkultur etabliert sich die Zahl als Möglichkeit, den Zugriff auf den Gedächtnisspeicher Schrift zu garantieren. Ihr Auftreten als Ordnungssystem und als Gedächtnisschema in den Köpfen von psalmierenden Novizen korrespondiert mit ihrem Erscheinen auf der Buchseite zur Numerierung von Kapiteln oder distinctiones, als Blattzählung in Inhaltsverzeichnissen oder als Anweisung, eine Bibelstelle aufzusuchen. Die 'verborgene' Zahl manifestiert sich in Reim und Rhythmus ebenso wie in der Proportionierung von Texten und Bildern.

Die Bildhaftigkeit der Texte und die Narrativik der Bilder korrespondieren miteinander und deuten über sich hinaus auf das Phänomen der Wunderkammer als Vorform des Museums, in der sich die Repräsentation von Welt in einer Zusammenstellung von Gegenständen verdichtet, die in einen 'erzählenden' Zusammenhang gebracht werden müssen, um 'anschaulich' zu bleiben, und auf die Bibliotheken, die das Wissen der Welt repräsentieren und 'gezählt' werden müssen, damit die Vollständigkeit gewährleistet ist.

Vor diesem weiteren Zusammenhang wird - zunächst in zwei spezifischen Unterprojekten - versucht, die Hand wie die Zahl als verborgene oder auch explizite Operatoren des 'Erzählens' zu analysieren sowie ihre Implementierung und Ausdifferenzierung zu beschreiben.


Unterprojekt I: Bild, Schrift, Zahl im illustrierten Flugblatt

Ausgehend vom Bild der Gotteshand, die für die Tat, das Wort und für die Zahl steht, soll die Zahl als konstituierendes Element von Bildern und Texten, aber auch und ganz besonders als Matrix für die Vermittlung von Bild und Text untersucht werden. Materieller Gegenstand dieser Untersuchung sind ausgewählte Text-Bild-Beispiele aus geistlichen (Psalter) und weltlichen Handschriften (Chroniken), aber ganz besonders die illustrierten Flugblätter der Reformation und des Barock, die in großen Sammlungen vorliegen und leicht zugänglich sind. Erste Stichproben haben gezeigt, daß dieses Material verblüffende Erkenntnisse für eine Vorgeschichte der technologisch fundierten Audiovisualität liefern könnte. Das optisch unscheinbarste Element des ganzen Blattes, die bildlich wenig attraktive Zahl, regiert häufig die ganze Darstellung durch die numerische Verknüpfung von Text und Bild.


Unterprojekt II: Zählen und Erzählen

Der Zusammenhang von Zeigen, Zählen und Erzählen mit der menschlichen Hand ist in bekannten Kinderreimen, die in den meisten europäischen Sprachen überliefert und zum Teil auch noch 'lebendig' sind, am deutlichsten erkennbar (Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen , der hebt sie auf etc.). Der hier unmittelbar einsichtige Sachverhalt, daß die Zahl die Erzählung strukturiert, daß 'aufzählen', 'erzählen' und 'zeigen' zusammenhängen, soll in komplexeren Texten untersucht werden.

Auszugehen ist dabei von den Predigttexten Bertholds von Regensburg, soweit sie mnemotechnisch angelegt und ihre Memorierbarkeit durch körpergebundene Zahlenverhältnisse und Körperbilder gestützt wird (fünf Finger, fünf Sinne, sieben Öffnungen des Kopfes etc.). Das gilt ähnlich für entsprechende Beispiele aus den "Canterbury Tales" von Geoffrey Chaucer, die vergleichend hinzuzuziehen wären. Auf dieser Grundlage wäre in einem dritten Schritt nach der 'verborgenen' Zahl in ausgewählten Textbeispielen der volkssprachigen Dichtung (Lyrik, Epik) und den damit verbundenen Wahrnehmungsmöglichkeiten zu fragen. Dazu gibt es Vorarbeiten, die zu sichten und im Licht einer veränderten Fragestellung neu zu bedenken wären.