2017_08_25 TAT_The Hague_Throne of Minos_Felix Sattler
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»Archäologie sollte eine soziale Bewegung sein«. Interview mit Dr. Anna Simandiraki-Grimshaw, Co-Kuratorin der Ausstellung REPLIKEN WISSEN



Dr. Anna Simandiraki-Grimshaw, Co-Kuratorin und Archäologin, spricht im Interview über gängige »Fallen« in archäologischen Ausstellungen, den neuen Blickwinkel der Ausstellung REPLIKEN WISSEN – Eine Archäologie vervielfältigter Vergangenheit und den Stand, den Feminismus und neue Medien heute in der Archäologie haben. Die Archäologin folgt der sogenannten »emischen« Herangehensweise; Personen der Geschichte werden nicht als Statistiken, sondern als wirkliche und fühlende Menschen behandelt. Auch durch diese Perspektive gelingt es der Ausstellung, Mythen über archäologische Entdeckungen zu dekonstruieren, um mögliche Vergangenheiten rekonstruieren zu können. Luise Wolf, Mitarbeiterin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Tieranatomischen Theater, hat sie interviewt.

Luise Wolf: Beschreibe uns bitte deine wissenschaftliche Perspektive.

Anna Simandiraki-Grimshaw: Mein akademischer Hintergrund ist ein kulturhistorischer und archäologischer, ich bin spezialisiert auf die Erforschung der Ägäischen Bronzezeit. Obgleich ich die etablierten Methoden archäologischer Forschung kenne und anwenden kann, liegt ihre Schwäche doch darin, dass sie oft eine zu enge Perspektive an Beweise anlegen. Sie fragen, was ein Objekt uns erzählt, anstatt unseren Blick darauf zu reflektieren, unsere Methoden, Neigungen und historischen Umstände – eben unsere ganz spezifische Art die Vergangenheit zu rekonstruieren und zu konstruieren. Die Ausstellung begibt sich auf die Spuren solcher Reflexionen. Sie zeigt die Bedeutung und Vielfalt der Repliken von Artefakten der Ägäischen Bronzezeit und wirft dabei Fragen nach Originalität, Identität, Geschichtlichkeit, Kunst und Materialität auf. Wer grub diese Objekte aus und welche Hoffnungen waren daran geknüpft? Wer interpretierte und vervielfältigte diese Objekte und aufgrund welcher Beweislage?

Was möchtest du den Besucher_innen also mitgeben?

In der Vergangenheit habe ich bereits archäologische Ausstellungen und gängige ‚Fallen‘ kritisiert, wie zum Beispiel übertriebene Fachsprache, aber auch die Verbreitung nationalistischer Agenden und hierarchischer Perspektiven. Oft schien es mir so, als würden Besucher_innen bloß wie Behälter für das Wissen der Kurator_innen behandelt. Bei der Ausstellungskonzeption und -gestaltung fanden mein Team und ich es also wichtig, Besucher_innen als reflektierte Wesen zu betrachten, die selbst Entscheidungen treffen können. Wir vermeiden Fachsprache, wo sie nicht nötig ist, wir stellen politische Diskurse heraus, aber treten nicht für sie ein. Wir verlassen uns auf die Erkenntnisfähigkeit der Besucher_innen, wenn wir sie mit Informationen versorgen, aber nicht überwältigen. Die Kernaussage, die wir transportieren möchten, ist, dass die Vergangenheit zwar nicht postmodern beliebig ist, aber dass mehrere Perspektiven und Interpretationen möglich sind. Repliken stützen, behindern oder verbreiten manchmal falsche Annahmen über Objekte, selbst wenn das Original eine andere Geschichte erzählt.

Kannst du uns dazu ein Beispiel geben?

Der Lilienprinz, auch bekannt als der Priesterkönig, ist ein Fresko aus Knossos, von dem nur Fragmente gefunden wurden. Sie wurden zusammengesetzt zu einem Bildnis eines jungen Mannes, der eine Krone oder Kopfbedeckung mit Lilien besetzt trägt. In der späteren wissenschaftlichen Diskussion stellte sich heraus, dass diese Figur wohl das Konstrukt des Archäologen Sir Arthur Evans und des Restaurators Emile Gilliéron sein muss. Der Oberkörper gehört zu einer männlichen Figur, die Beine aber zu einer anderen, die Krone vermutlich auf das Haupt einer Sphinx – eine mythologische Figur, die in Bildnissen dieser Zeit oft mit dieser Art Kopfbedeckung gefunden wurde, also etwa um 1400 vor Christus.
Wie auch immer, Evans verbreitete aber sein Bildnis vom Lilienprinzen, Gillièron stellte mehrere Repliken davon her und eine dieser Repliken steht nun im Palast von Knossos. Als sich die Repliken verbreiteten, wurde das Bild sehr populär. Es fand Eingang in Universitäten, Museen und die öffentliche Wahrnehmung, die Popkultur und den Alltag, neben diversen Adaptionen des Bildes für Wein-Etiketten oder Opernkulissen. Obwohl die meisten wissenschaftlichen Studien heute zeigen, dass die Rekonstruktion schlicht falsch ist, wurde sie zu einem ikonischen Bild. Es ist in der Art immer noch im Archäologischen Museum Heraklion auf Kreta zu sehen.

Perspektiven des Feminismus und des Postmodernismus re-interpretierten die Geschichte und Diskurse der Medizin oder Künste – auch der Archäologie?

Ja, aber zu unterschiedlichen Graden. Ägäische Archäologie holt gerade erst mit anderen Bereichen dieser Wissenschaft auf. Ein Grund dafür ist der historisch vorherrschende ‚männliche Blick‘ der Archäologen und Restauratoren. Dem begegneten dann während der 1960er und 1970er Jahre gleichermaßen reaktionäre weibliche ‚Projektionen‘ durch inspirierte Künstlerinnen oder übereifrige feministische Archäologinnen. Die Vorurteile auf beiden Seiten werden an der Geschichte der Statuette der Schlangengöttin aus Knossos deutlich: die ersten Archäologen interpretierten sie geradezu sexistisch. Dann kamen feministische Archäologinnen und Künstlerinnen und boten gegenläufige, aber gleichfalls übertriebene Interpretationen über diese Figur an. Aber neuere Forschungen versuchen dieses Missverhältnis durch Gender-bewusste Studien über Ägäische Archäologie auszugleichen.
Ein weiterer Grund für die Rückständigkeit der Archäologie in Bezug auf postmoderne Theorie war die mangelnde Bereitschaft der Archäologen, in Ausstellungen verschiedene Stimmen zu repräsentieren, aber auch die Erwartung der Öffentlichkeit, eindeutige Fakten präsentiert zu bekommen. Die Menschen mögen definitive Antworten – ‚so ist es gewesen‘. Für diese Ausstellung sammelten wir unterschiedliche, reale und oft Gender-relevante Stimmen; die sich in Objekten, künstlerischen Installationen, Interviews, Videos und Audio-Produktionen ausdrücken. Wir versuchten auch, die gesammelten Informationen nicht in einem schon feststehenden Sinn zu präsentieren, sondern in einer Art und Weise, sodass Besucher_innen sich selbst erschließen können, wie die Vergangenheit gewesen sein könnte.

Wie ist es als Frau in diesem Feld zu arbeiten? Stellst du dir manchmal vor, wie es wäre in einer anderen Zeit gelebt zu haben?

Ich bin wirklich stolz, als Frau in diesem Bereich zu arbeiten. Nicht, weil ich glaube besser zu sein wegen meines Geschlechts, sondern weil ich merke, dass ich vielleicht ein paar Gender-kritische Denkweisen anstoßen kann, die eigentlich bereits die Norm sein sollten. Weibliche Archäologinnen – so ist es zumindest in griechischer Archäologie – haben aufgeholt, wenn nicht sogar männliche Kollegen in Zahl und potentiellen Möglichkeiten überholt. Aber ich muss auch sagen, dass sich die Archäologie immer noch bis zu einem gewissen Grad auf Sexismus und Sex-Politken stützt.
Ich habe mir immer vorgestellt, wie es wäre in der Zeit zu leben, die ich erforsche. Als Jugendliche stellte ich mir bereits sehr oft vor, in der Vergangenheit zu leben. Und ich wollte nicht bloß eine Fantasie kreieren, sondern wirkliches Wissen darüber erlangen. Als Studentin und angehende Wissenschaftlerin tat ich das auch weiterhin, aber jetzt mit einer reiferen Intention: um mich in die Menschen und Kulturen hineinzuversetzen, die ich studierte. In der Archäologie nennen wir das den ‚emischen‘ Zugang: der Versuch, Menschen nicht als Statistiken oder Artefakte zu behandeln, sondern sich in sie hineinzufühlen und dadurch die Umstände besser zu verstehen, ihre und unsere.

Welche Kommunikationsformen und -formate fehlen der Archäologie heute?

Das kommt auf die an, die kommunizieren, denke ich. Einige Grabungs-Archäologen, Kuratoren und Institutionen verhalten sich proaktiv im Umgang mit neuen, offenen Medienformaten. Sie machen relevante Websites, nutzen Social Media und bieten offene Tage an, an denen sie Vorträge halten und dergleichen. Sie sehen das als Modus einer unmittelbaren und freundlichen Kommunikation mit Interessierten, durch die sie diverse Leute erreichen können. Andere nutzen diese Formate nicht, obwohl sie wohl sehen, dass sie sehr populär sind. Entweder sie haben Angst, dass diese weniger institutionellen Kommunikationswege ihre Autorität mindern könnten, indem akademische Diskurs trivialisiert werden. Oder sie befürchten, sie könnten nicht-autorisierten Versionen des Wissens, wie zum Beispiel Verschwörungstheorien oder Chauvinismus, Plattformen bieten. Ich glaube, es ist wichtig, das mit Abstand zu sehen. Die Archäologie hat ein großes Potential jenseits kleiner akademischer oder musealer Debatten und nationalistischer Schemata. Sie kann Leuten helfen, Sinn in ihrer Welt und sich selbst zu finden, der Vergangenheit, der Jetztzeit und der Zukunft.
In REPLIKEN WISSEN umgehen wir einige der traditionellen Sprechweisen. Wir haben die Ausstellung nicht als eine trockene Darstellung von originalen Daten, Themen und Artefakten angelegt, gefolgt von deren Imitationen in Repliken. Stattdessen stellen wir einen Dialog zwischen den Kurator_innen und den Ausstellungsobjekten vor, zwischen Repliken und Originalen, zwischen den Künsten, den Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen Spezialisten und nicht-Spezialisten. Es gibt keine ellenlangen Texte neben den Objekten, wissenschaftliche Texte heben wir uns für die folgende Publikation zur Ausstellung auf. Wir arrangieren Objekte in Blickwinkeln, die visuelle Dialoge zwischen ihnen und den Besucher_innen evozieren, anstatt die Objekte bloß auf Besucher_innen imponieren zu lassen. Und wir hoffen zeigen zu können, dass Archäologie akademisch korrekt und zugleich ästhetisch ansprechend sein kann.

Wie kann Archäologie unsere Kultur heute mit einzigartigem Wissen speisen?

Ich finde, Archäologie sollte eine soziale Bewegung sein. Wofür ist ein Artikel über ein Stückchen Keramik in einer akademischen Zeitschrift denn gut, wenn er von 200 Spezialisten gelesen wird? Währenddessen werden ganze archäologische Stätten – und damit Vergangenheiten – verunstaltet oder ausgelöscht, was tausende Menschen betrifft. Indem wir betonen, wie Leute dachten, handelten, Fehler machten oder gewannen, aber auch wie wir etwas wissen können, wie wir interpretieren und Artefakte und Daten benutzen, können wir eine soziale Rolle spielen, die viel bedeutsamer ist.


REPLIKEN WISSEN

Eine Archäologie vervielfältigter Vergangenheit


16. September 2017 – 31. März 2018


Öffnungszeiten: Dienstag – Samstag, 14 bis 18 Uhr

Eintritt frei


Pressekontakt

Luise Wolf

E-Mail: luise.wolf@hu-berlin.de


Tieranatomisches Theater der Humboldt-Universität zu Berlin


Campus Nord, Philippstr. 12/13, Haus 3, 10115 Berlin

Telefon: 030 / 2093 466 25

E-Mail: tat.hzk@hu-berlin.de


Die Ausstellung wurde im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojekts am Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik und im Basisprojekt „Mobile Objekte” des Exzellenzclusters »Bild Wissen Gestaltung« in Kooperation mit dem Winckelmann-Institut für Klassische Archäologie an der Humboldt-Universität entwickelt. Das Projekt wird gefördert im Programm „Fellowship Internationales Museum“ der Kulturstiftung des Bundes. Die griechisch-britische Archäologin Dr. Anna Simandiraki-Grimshaw (Kuratorin) konnte im Rahmen des Fellowships als Post-Doc Wissenschaftlerin für 18 Monate an der Humboldt-Universität forschen und hat die Ausstellung gemeinsam mit Felix Sattler (Idee, Kurator & künstlerische Leitung), Konrad Angermüller (Gestaltung) und dem Team des Tieranatomischen Theaters konzipiert und realisiert.

Zum Abschluss der Ausstellung erscheint eine umfangreiche Publikation im K. Verlag, herausgegeben von Anna Simandiraki-Grimshaw, Felix Sattler und Konrad Angermüller.

Gefördert im Programm „Fellowship Internationales Museum” der Kulturstiftung des Bundes; vom Exzellenzcluster »Bild Wissen Gestaltung« der Humboldt-Universität zu Berlin und von der Bild-Kunst.



Gefördert durch

Kulturstiftung des Bundes

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