Am Modellsystem bakterieller Biofilme wird die zentrale Frage gestellt, wie Gene im Wechselspiel mit Umweltbedingungen Raum gestalten, also suprazelluläre Architektur und Morphogenese dieser mikrobiellen Gemeinschaften, die sich wie Gewebe verhalten, steuern. Biologische 'Baumaterialien' (extrazelluläre amyloide Fasern und Cellulose), deren zelluläre Produktion abhängig von der Position der Zellen im Biofilm genetisch gesteuert wird, erzeugen hierbei eine komplexe suprazelluläre Architektur und bestimmen physikalische Parameter wie Kohäsion und Elastizität, die eine mit dem bloßen Auge sichtbare dreidimensionale Auffaltung des Biofilms in vielfältigen Mustern erlauben. Derartige räumliche Verschiebungen führen zu veränderten Umweltbedingungen für große Teile des Biofilms, was wiederum auf die genomweite Genexpression der betroffenen Zellen zurückwirkt und damit zu sekundären morphogenetischen Prozessen führt.
Bei den Forschungsarbeiten wird der gesamte Bogen von den Molekülen bis zur sichtbaren Morphologie gespannt. Während die mikrobiologische Forschung seit langem auf die Prozesse in einzelnen bakteriellen Zellen fokussiert, werden hier zum ersten Mal bakterielle Gemeinschaften, die aus Milliarden von Zellen bestehen, als ideales Modellsystem zur Erforschung grundlegender makroskopisch-morphogenetischer Prozesse genutzt. Neben der Aufklärung der zugrunde liegenden molekularen Signaltransduktionswege und Regulationsnetzwerke erheben sich dabei auch Fragen des Umgangs mit komplexen Bildern morphologischer Form – sowohl auf mikroskopischer wie sichtbar makroskopischer Ebene – als Phänotyp molekulargenetischer Untersuchungen. Darüberhinaus wird untersucht, welche Rolle bakterielle multizelluläre Verbände – nach einer ersten sprachmächtigen, aber bildfreien Beschreibung durch Ferdinand Cohn im Jahr 1877 – in der Geschichte der Mikrobiologie gespielt haben.
Das Projekt verfolgt die Strategie, eine integrative Verbindung von experimentellen, historisch-analytischen und gestalterischen Ansätzen zu schaffen. Ein primäres Ziel ist die Aufklärung der molekularen Regulationsvorgänge, die dem Aufbau der suprazellulären Architektur und der Morphogenese bakterieller Biofilme zugrundeliegen. Hierbei sollen Prinzipien der Molekularbiologie mit den Ansätzen morphologischer Forschung und der Bildwissenschaften zusammengeführt werden. Produktion und Analyse von Bildern, die Primärdaten oder zusammenfassende Modelle darstellen oder auch wissenschaftskommunikative Funktion haben können, sollen dabei kontinuierlich kritisch hinterfragt werden.
Als Modellsystem dienen Makrokolonie-Biofilme von Escherichia coli, einem menschlichen Darm-Bakterium, das in harmlosen, aber auch in krankheitserregenden Varianten vorkommt. Insbesondere wird die Rolle des Signalmoleküls c-di-GMP bei der Ausprägung der suprazellulären Architektur und Biofilm-Morphogenese untersucht (s. auch http://www.biologie.hu-berlin.de/de/gruppenseiten/mikrobiologie/hengge/r...).
Derartige Bilder von bakteriellen Biofilmen können nicht – wie sonst in den quantitativ-molekularen Biowissenschaften üblich – auf Zahlen oder Formeln reduziert, also ‘objektiviert‘ werden. Bisherige Untersuchungen weisen aber darauf hin, dass sie in erkenn- und benennbare Grundelemente dekonstruiert werden können, deren Vorhandensein in bestimmten räumlichen Mustern und Mengenverhältnissen Rückschlüsse auf zugrundeliegende zelluläre und molekulare Komponenten und Prozesse in bestimmten Regionen der Biofilme zulassen – diese visuelle Analyse soll daher die phänotypische Basis einer leistungsfähigen molekularen Genetik morphologischer Form werden.
Ausgehend von der Beschreibung der Isolierung des Bakteriums Bacillus subtilis durch Ferdinand Cohn im Jahre 1877 (in der er de facto die erste Beschreibung eines Biofilms lieferte), wird die Rezeptionsgeschichte des von Cohn beschriebenen Phänomens aufgearbeitet werden. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, ob die theoretischen Grundlagen morphologischer Forschung, die bis in die 30/40er-Jahre des 20. Jahrhunderts eine Leitwissenschaft der Biologie war, dann aber von der Molekularbiologie als solcher abgelöst wurde, für die heutige Erforschung der molekularen Ursachen makroskopischer Biofilm-Morphogenese nutzbar gemacht werden können.
Geplant sind Buch- und Ausstellungsprojekte, mit denen die Öffentlichkeit an die Welt der Bakterien und unseres Mikrobioms herangeführt werden soll, sowie ein »Artist-in-Residence«-Projekt im Hengge-Labor. Zudem wird das seit 2010 erfolgreiche Science&Theatre-Projekt in Zusammenarbeit mit dem English Theatre Berlin | International Performing Arts Center fortgesetzt (http://www.biologie.hu-berlin.de/de/gruppenseiten/mikrobiologie/hengge/s...).
Die Arbeit des Projekts soll durch (interdisziplinäre) Fachpublikationen wissenschaftlich dokumentiert und durch die oben beschriebenen Wissenschaftskommunikationsprojekte der Öffentlichkeit vorgestellt werden.