GRRLT.
Abseits der Norm
Ausstellung zur Geschichte der »Gurltschen Missbildungssammlung«
16. Dezember 2016 bis 30. November 2017 im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität zu Berlin
Eröffnung
am 15.12.2016, 19 Uhr
Sie
wurden systematisch beschrieben und in eine »Missbildungssammlung« eingeordnet. Sie wurden nach Arten klassifiziert und ihnen wurden
Namen wie »kugelige Ungestalt«, »katzenköpfiger Zwerg« oder »Einauge« gegeben. Der Wissenschaftler Ernst Friedrich Gurlt
sammelte im 19. Jahrhundert für seine Forschung Präparate von
fehlgebildeten Tieren.
Die
Beschäftigung mit dieser Sammlung wirft auch ethische Fragen auf.
Denn der Anspruch des Forschers war es, nicht nur Tiere sondern auch
Menschen mit Fehlbildungen in sein System der »Missbildungen« einzuordnen. Galten die Menschen damit als anormal, krank und
missgebildet, konnte dies fatale Folgen für die Betroffenen haben.
Klassifikationssysteme, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet
haben, wirken mitunter bis heute fort. Die
Ausstellung »GRRLT.
Abseits der Norm« sucht nach einem wissenschaftshistorischen Zugang zu dieser Sammlung
aus dem 19. Jahrhundert. Nicht die Biografie des Forschers, sondern
die Geschichten der Objekte und des Wissens stehen im Fokus.
Eine
filmische Installation vollzieht nach, wie der Forscher die
Tierkadaver durch das Einordnen und Benennen zu wissenschaftlichen
Objekten umdeutete. Weiter folgt die Ausstellung den Verstrickungen
der Sammlung mit dem global-kolonialen Objekthandel, dem Streit um
die Evolutionstheorie und der Allianz zwischen medizinischen
Untersuchungen und populären Menschenschauen. In scheinbar
nebensächlichen Notizen offenbaren sich in ergänzenden Hörstücken
weitreichende Konsequenzen und Zusammenhänge zwischen Objekten,
Personen und Institutionen der damaligen Zeit.
Die
Ausstellung offenbart in einem dritten Abschnitt die wechselvolle
Geschichte der Objekte nach dem Tod des Forschers bis in die
Gegenwart. Es scheinen Momente des Bedeutungsverlusts und der
künstlerischen Eroberung auf. Der Blick auf den heutigen Ort und
Gebrauch zeigt: Das Institut für Veterinär-Anatomie der Freien
Universität Berlin in Dahlem bewahrt die Präparate und nutzt sie
als Lehr- und Forschungsobjekte sowie als Zeugnisse der eigenen
Institutionengeschichte.
Die »Gurltsche Missbildungssammlung« ist im Rahmen der
Neustrukturierung der Berliner Wissenschaftslandschaft und damit auch
der veterinärmedizinischen Forschung und Lehre nach 1990 von der
Humboldt-Universität an die Freie Universität gekommen. „GRRLT.
Abseits der Norm“
präsentiert nun einen Teil der Objekte für die Ausstellungsdauer im
Tieranatomischen Theater – an eben jenem Ort, an dem Gurlt in den
1820er Jahren seine Lehr- und Sammlungstätigkeit begonnen hatte.
Die
ehemalige Stätte der Königlichen Tierarzneischule zu Berlin bietet
heute Raum für experimentelle Ausstellungsforschung. Die
Präsentation in einem der ehemaligen Präparierräume konfrontiert
die historische mit der gegenwärtigen Nutzung dieses Ortes. Die
Ausstellung sucht nach Wegen einer heutigen zeitgemäßen
Auseinandersetzung anstelle historische Momente der Tierarzneischule
zu rekonstruieren. Filminstallationen, Hörstücke und die gesamte
Ausstellungsgestaltung stehen nicht nur in ästhetischem Kontrast zu
den historischen Objekten und Archivalien; sie provozieren auch einen
inhaltlichen Bruch mit Ernst Friedrich Gurlts wissenschaftlichen
Annahmen aus dem 19. Jahrhundert. Das Denksystem wird in einer
kritischen Distanz vermittelt, nicht lediglich nachgezeichnet. Nicht
das Wissen über Natur, sondern die Kultur der Wissenschaften steht
im Mittelpunkt der Ausstellung.
Die Ausstellung ist damit Teil der Bestrebungen an der Humboldt-Universität, aktuelle und ehemalige Sammlungen und die mit ihnen verbundenen Praktiken als historisch bedingte Kulturtechniken zu reflektieren und zu präsentieren.
Kuratorinnen der Ausstellung
Idee/Konzept/Wissenschaftliche Recherche: Mona Wischhoff
Filminstallation/Ausstellungsgestaltung: Sarah K. Becker
Projektmanagement/Leihverkehr/Audioguide: Alina Strmljan
Entwurf
Ausstellungsmobiliar: Rosanna Wischhoff
Ausstellungsbau: Bernd-Michael Weisheit
Projektleitung:
Jochen Hennig
Kurator
Tieranatomisches Theater: Felix Sattler
Leihgaben
und Faksimiles: Institut für Veterinär-Anatomie, Fachbereich
Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin, Archiv
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften,
Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Historische
Sammlungen der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu
Berlin
Hörstück: Interviews mit Nils Seethaler (Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte), Hana Hünigen und Janet Weigner (beide: Institut für Veterinär-Anatomie, Freie Universität Berlin), Esther Becker (Sprecherin), Sebastian Janata (Sounddesign und Editierung)
Ein Projekt des Projektes »Mobile Objekte« des Exzellenzclusters »Bild Wissen Gestaltung. Ein Interdisziplinäres Labor« der Humboldt-Universität zu Berlin.
Die Realisierung dieser Ausstellung wurde unterstützt durch die großzügigen Spenden von Besucher_innen des Tieranatomischen Theaters.