Die Humboldt-Universität zu Berlin bietet ein neues interaktives Besuchserlebnis: Das Flechtwerk der Dinge – Sammlungsschaufenster im Tieranatomischen Theater lädt zur Erkundung der Vielfalt der Dinge, unbekannter Zusammenhänge und kritischer Positionen in der Sammlungspraxis ein. Eine App bietet Besucher_innen ein individualisiertes Erlebnis, bei dem die Dinge in immer wieder neuen Konstellationen aktiviert werden.
Ausgehend von den Themenfeldern »Gebrauch«, »Herkunft«, »Vielfalt« und »Lokalität« lassen sich weitere Verknüpfungen aktivieren. Besucher_innen jeden Alters können sich mittels der App spielerisch durch das ‚Flechtwerk der Dinge‘ begeben, sich mit Texten, Bildern und Filmen gezielt über einzelne Objekte informieren oder in virtuellen Touren Zusammenhängen nachspüren. Was verbindet die Fotografie der Marienkirche in Prenzlau mit einer Gesteinsprobe eiszeitlichen Geschiebes? Gibt es ein gemeinsames Werkzeug zum Verständnis eines kristallographischen Modells und Tonscherben aus einem kuschitischen Sakralort im Sudan? Und was hat ein Lavastein mit dem Dschihad zu tun?
Die virtuellen Touren zu Sammlungspraktiken (»Üben«, »vergleichendes Sehen«), zeithistorischen Einordnungen (»gesammelt in der DDR«,) genderspezifischen Fragestellungen (»Sammeln ist Frauensache«) und Objektgattungen (»Modelle«) bilden Brücken zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, die auch neue Perspektiven auf hochaktuelle gesellschaftliche Themen wie z. B. Migration einschließen.
Die historischen Bibliotheksschränke von 1790 bilden eine faszinierende Rahmung für eine Ausstellungsgestaltung, die ohne sichtbare Texte auskommt und den Blick auf die Objekte schult. Die einzigartige Architektur dieser »Wunderkammer des 21. Jahrhunderts« beinhaltet eine für jedes Exponat individuell steuerbare Beleuchtung, die die von den Besucher_innen per App begangene Tour durch die Ausstellung in Echtzeit sichtbar macht.
Zum Auftakt präsentiert das Sammlungsschaufenster 80 Objekte aus 24 Sammlungen der HU und von mit der Universität verbundenen Partnerinstitutionen. Die Objekte stammen unter anderem aus dem Historischen Kabinett des Instituts für Psychologie, der Sammlung am Centrum für Anatomie, der Sudanarchäologischen Sammlung, der Kunstsammlung, dem Lautarchiv und dem Medienarchäologischen Fundus. Vertraute Objekte und berühmte Personen tauchen ebenso auf wie weniger Bekanntes und Überraschendes.
Heiner Müllers Forschungsbibliothek enthält nicht etwa nur große Literatur, sondern auch sein persönliches Exemplar des Krimis Grünes Eis von Raoul Whitfield. Er ist ein aufschlussreiches Dokument, da Heiner Müller darin seine Gedanken zum Lesen auf Reisen notierte.
In universitären Sammlungen ist nicht nur die Bewahrung von Dingen wichtig, sondern vor allem ihre Benutzung. Aus dem Medienarchäologischen Fundus zeigt das Sammlungsschaufenster einen »Commodore 64«, der als erster leistungsstarker und erschwinglicher Heimcomputer 1982 auf den Markt kam und heute Kultstatus besitzt. Anstatt ihn als Ganzes zu erhalten, ist er in seine Einzelteile zerlegt worden. Verstehen durch Dekonstruieren ist eine zentrale Methode in der Lehre, die manchmal unwiederbringlich sein kann – zu erkunden in der Tour »Verlust gehört zum Geschäft«.
Das Thema »Migration« findet sich in vielen Sammlungen in ganz unterschiedlichen Maßstäben wieder – erdgeschichtlich, regional oder global. Eiszeitliche Gletscher haben Gestein aus Skandinavien nach Brandenburg transportiert. Brandenburger Kinderspiele dokumentieren regionale Migration und Verstädterung im frühen 20. Jahrhundert. Die erste Moschee Deutschlands ist während des Ersten Weltkriegs in einem Kriegsgefangenenlager in Wünsdorf errichtet worden.
Als dynamische Dauerausstellung konzipiert, werden die Objekte und Themenschwerpunkte in zeitlichen Abständen von sechs bis vierundzwanzig Monaten ausgetauscht, sodass das Flechtwerk der Dinge immer wieder neue Themen und Verknüpfungen hervorbringt und die Objekte auch für die Forschung und Lehre weiterhin in den Sammlungen nutzbar bleiben.
Kuratiert von Felix Sattler, Sarah Becker und Jessica Korp.
Idee und ursprüngliches Konzept: Felix Sattler und Dr. Jochen Hennig.