Operative Bildlichkeit in der kunsthistorischen Forschungspraxis
Die graphische Visualisierung kunsthistorischen Wissens geschieht seit den Anfängen der Disziplin in Form von chronographischen Zeitleisten, relationalen Netzwerken und kunsttopographischen Karten. Im Rahmen des Dissertationsprojekts werden die graphischen Methoden der Kunstwissenschaft vor der Folie einer interdisziplinären Stilgeschichte der Diagramme rekonstruiert. Die zentrale Fallstudie anhand von Nachlassmaterialien des Architekturhistorikers Heinrich von Geymüller fokussiert dabei gezielt die Zeit um 1900, in der wissenschaftliche Bildstrategien z.B. der Statistik, Meteorologie, Evolutionstheorie, Ingenieurs- und Geowissenschaften in Konjunktion treten mit Tendenzen der Abstraktion in den Künsten. Ziel ist es, die Geschichte der Kunstgeschichte selbst als eine Geschichte der Zeichnung lesbar zu machen, in der Stilentwicklungen und Totalitätskonstruktionen der Künste als Punkte, Linien und Flächen in Koordinatenräumen zu spezifischen Formen der Sichtbarkeit gelangen und der Theoriebildung operative Denkräume eröffnen.
Das Dissertationsprojekt synthetisiert Methoden der Kunst- und der Wissenschaftsgeschichte für die kulturtechnische Diskussion diagrammatischer Visualisierungen. Kern und Ausgangspunkt des Vorhabens bilden bis heute nahezu unbearbeitete Materialien aus dem Nachlass des Architekturhistorikers Heinrich von Geymüller (1839-1909). Dass für Geymüller das Schreiben von Architekturgeschichte auf das Engste mit dem konstruktiven Moment der Zeichnung verbunden war, offenbart sich bereits in seinen hypothetischen Rekonstruktionen der ursprünglichen Entwürfe für St.-Peter in Rom. Im Rahmen seiner Arbeiten zur Französischen Renaissance nahm diese graphische Methodik explizit diagrammatische Formen an: Seiner 1898 erschienenen Baukunst der Renaissance in Frankreich stellte er eine als farbige Lithografie ausgeführte ‚Graphische Darstellung der Entwickelung der Perioden und Phasen des Renaissance-Stils in Frankreich von 1475–1895’ voran. Geymüller zielte dabei auf eine Visualisierung abstrakter historischer Kategorien ab, um den Architekturstil und seine Entwicklung durch die Zeit in graphischen Formen vor Augen zu führen. Im Nachlass Geymüllers finden sich zahlreiche Skizzen und Vorstudien zu diesem Diagramm, anhand derer sich dessen Genese detailliert rekonstruieren und sich ersehen lässt, wie stark seine graphische Methode von biologisch-evolutionären Theorien organischer Entwicklung und von Bildern der Statistik, Meteorologie, Elektrotechnik und Geowissenschaften inspiriert war.
Die Auseinandersetzung mit diagrammatischen Notationen aus der Hand von Kunsthistorikern eröffnet eine wissenschaftshistorische Perspektive, die über eine auf Institutionen und Biografien reduzierte Disziplinengeschichte hinausführt und kunsthistorische Forschungspraxis in Relation zu transdisziplinär quer verlaufenden ‚Denkstilen’ in den Wissenschaften verortet. Die Praxis des diagrammatischen Zeichnens als elementare graphische Kulturtechnik des Forschens ernst zu nehmen bedeutet, eine Geschichte des Explorierens und Kartierens historiographischer Forschungsfelder zu schreiben, auf denen prozessuale Entwicklungen in der Zeit sowie deren Akteure und Artefakte und sie verbindende Relationen in graphische Formen – Punkte, Linien und Flächen – überführt wurden. Damit kommt dem erkenntnistheoretischen Wert des Graphismus zentrale Bedeutung zu.
Mit dem kunsthistorischen Diagramm erschließt sich ein Aspekt operativer Bildlichkeit, welcher der zeichnerisch protokollierten Autopsie als Notationspraxis vor dem Original eng verwandt ist. Beide können zu den grundlegenden Techniken epistemischen Handelns des Kunsthistorikers auf Bildflächen gezählt werden. Während Skizzen nach Gemälden, Skulpturen oder Architektur Notationen räumlicher Objekte mit mimetischem Impetus sind, stehen diagrammatische Zeichnungen in einem strukturellen Ähnlichkeitsverhältnis zur Wirklichkeit. Im technisch-kreativen Zusammenspiel von Gestaltung und Wahrnehmung fordert aber auch die diagrammatische Skizze, als manuell-graphisches 'Experimentalsystem', ihre eigenen Formen und ihre permanente Fort-, Um- und Überschreibung ein. Das Diagramm ist konstitutiver Teil des Forschungsprozesses und, als Artefakt eigener Qualität, ein Scharnier zwischen den sichtbaren Objekten und schriftlichen Diskursen. Entgegen dieser zentralen Funktion ist das kunsthistorische Diagramm, gemessen an den literarischen Narrativen und Bildkompendien des Fachs (Kugler 1842; Schnaase 1843-1864; Seroux d'Agincourt 1810-1823), jedoch nach wie vor ein Nischenphänomen, das es zwischen Filippo Baldinucci (1624-1697) und der Gegenwart in seinen Bedeutungen erst zu rekonstruieren gilt.
Enge Bezüge formaler, inhaltlicher und methodischer Art bestehen zwischen den diagrammatischen Arbeiten Geymüllers und dem wissenschaftlichen Œuvre des Architekturhistorikers Franz Mertens (1808-1897), dessen Lebenswerk denkmaltopographischer Karten und ‚Chronographischer Tafeln’ insgesamt auf Methoden der graphischen Darstellung fußt. Da zwischen beiden Wissenschaftlern zudem persönliche Beziehungen bestanden, kann sogar von einer 'Schule' kunsthistorischer Diagrammatik gesprochen werden. Dieser Verbindung wird im Rahmen einer Kooperation mit dem Projekt Architekturgeschichte und Intermedialität: Der Nachlass des Berliner Bauforschers Franz Mertens (1808-1897) von Dr. Wolfgang Cortjaens in Form einer gemeinsamen Tagung, Publikation und Ausstellung in den Jahren 2011/2012 nachgegangen.
siehe auch: Heinrich von Geymüller (1839-1909) - Architekturforscher und Architekturzeichner, eine Ausstellung der Universitätsbibliotheken Basel und Graz unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Georg Germann und Prof. Josef Ploder