Scherer - Helmholtz Vorlesung Juli 2014
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Scherer - Helmholtz Vorlesung Juli 2014
Lugar
Kinosaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6

Prof. Dr. Jutta Scherrer (Ecole des hautes études en sciences sociales, Paris, Frankreich) spricht zum Thema:

Russland »verstehen«?
Das postsowjetische Selbstverständnis im Wandel

1991 wurde die Sowjetunion aufgelöst. Dieses Ereignis markierte den Abschied von der sowjetischen Ideologie und das Ende einer ganzen Epoche. Die Gesellschaft war aufgefordert, die Fragen nach der nationalen Identität und ihrem Selbstverständnis neu zu beantworten. Jetzt, nach mehr als 20 Jahren, bleiben diese Fragen immer noch offen: Worin unterscheidet sich die moderne russische Gesellschaft von der früheren? Welche Werte und soziale Verhaltensmodelle bestimmen sie? Wie »versteht« man die aktuelle Situation im Rückblick auf die Geschichte der zwei letzten Jahrzehnte? 

Diesen Fragen geht Jutta Scherrer im Rahmen der Helmholtz-Vorlesung nach. Dabei konzentriert sie sich nicht auf die politisch-institutionelle Geschichte und Außenpolitik, sondern auf ideologische, kulturelle und nationalistische Wertvorstellungen, die zur Identitätskonstruktion des postsowjetischen Russlands beitrugen: »An Beispielen der verschiedenen Etappen der Identitätssuche und -findung der Ära Jelzins und Putins wird gezeigt, wie auf der Grundlage der einstigen Macht, Größe und Imperialität Russlands wie in letzter Zeit auch der Sowjetunion ein neues russisches Selbstverständnis entstand. Es ist nicht moralisch, sondern national geprägt, und diese Tatsache bestimmt die politisch und geopolitisch orientierte Geschichtspolitik und Erinnerungskultur des heutigen Russlands. Die Frage nach dem von der Russischen Föderation nach 1991 angetretenen Erbe der Sowjetunion und dem Umgang mit ihm blieb bisher offen, was zweifelsohne gewisse Aspekte der heutigen Politik Putins erklärt.«

Jutta Scherrer ist Professorin für Russische Kultur- und Ideengeschichte an der Ecole des hautes études en sciences sociales in Paris. Sie hat sich besonders mit soziokulturellen und polittheoretischen Aspekten der russischen Intelligencija des 19. und 20. Jahrhunderts, der russischen Religionsphilosophie und dem russischen und sowjetischen Marxismus beschäftigt. In letzter Zeit gilt ihr Interesse identitätsbildenden Prozessen, Geschichtspolitik und neuen Eliten im postsowjetischen Russland. Sie war »visiting professor« an der Columbia University der New School for Social Research in New York, an der Ruhr-Universität Bochum, Leibniz-Professorin in Leipzig und Forscherin am Centre Marc Bloch in Berlin und dem Aleksanteri Institut in Helsinki. Sie ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig, des Deutschen Historischen Museums in Berlin, des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst und des Excellence Programms des Aleksanteri Instituts in Helsinki.

Veröffentlichungen zum Thema:

  • Kulturologie. Russland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identität, Göttingen (Wallstein Verlag) 2003.
  • Russian historial Memory and the interplay of myth, identity and official history Policy, in: Winfried Eberhard, Christian Lübke (Hrsg.), The Plurality of Europe. Identity and Spaces, Leipzig (Leipziger Universitätsverlag) 2010, S. 297-311.
  • The "cultural/civilizational turn" in post-Soviet identity building, in: Per-Arne Bodin, Stefan Hedlung, Elena Namli (Hrsg.), Power and Legitimacy: Challenges from Russia, London (Routledge), 2012, S. 152-168.
  • Andreas Kappeler. Russland als Vielvölkerreich. Entstehung – Geschichte – Zerfall, München 2008.