Interpretieren

Kunstkammer
Foto: Brigida González | WeltWissen
 „Beschreiben zwecklos, muss man gesehen haben!“, schrieb Ludwig Borchardt am 6. Dezember 1912, als er die Büste der Nofretete entdeckte. Und doch ist die Beschreibung von Bildzeugnissen und Gegenständen eine zentrale wissenschaftliche Tätigkeit. Disziplinen entwickeln hierfür ihre jeweils eigenen Terminologien. Gleichzeitig ist Beschreibung immer auch Interpretation, weil sie einer ausgewählten Perspektive entspringt. Die Interpretation wird von bestimmten Fragen gelenkt. Sie ist individuell und disziplinär geprägt. Im Unterschied zur Interpretation im Alltag sollte es Aufgabe der Wissenschaft sein, sich die Voraussetzungen ihrer Interpretation bewusst zu machen. So zeigen sich in bestimmten interpretativen Zugängen Denkschulen der Wissenschaft.

Drei in dem Raum präsentierte Objekte wurden aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven interpretiert. Klicken Sie auf die Bilder, um sich die Interpretationen zu zwei Beispielen anhören zu können.
test
Bronzekopf aus Benin
test
Karl Marx' "11. Feuerbach-These"

Interpretieren in der heutigen Forschungspraxis

test
Foto: Brigida González | WeltWissen
Welche Rolle spielt das Interpretieren für Sie bei Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit in Ihrer Disziplin?
10 Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen beantworteten für die Ausstellung WeltWissen diese Frage.


Was meine historischen Quellen (Texte, Bilder, Tondokumente) aussagen, erschließt sich nicht unmittelbar, sondern durch Kontextualisierung. Einen Kontext stelle ich her, indem ich möglichst viele facts über die Quelle sammele (Autor, Adressat, Zeit, Ort, Anlass). Wie ich dann die Informationen anordne, kombiniere und in Beziehung zu Text, Bild, Ton setze, ist ein Akt der Interpretation. Dieser Akt beruht auf Auswahl und Entscheidung: Manche Deutungen sind schlicht plausibler als andere.
Prof. Dr. Ute Frevert, Historikerin
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung



Chemie ist die Wissenschaft der Stoffe. Sie wandelt die Struktur der Stoffe um und gibt ihnen dadurch neue Eigenschaften. Dafür muss der Chemiker die Reaktivitäten eines Stoffes erkennen. Er ordnet die Interpretationen in Regelwerke, um seine Experimente zu planen. Die Komplexität von Molekülen und Feststoffen zwingt den Chemiker dazu, qualitative Interpretationen vorzunehmen, die Rückführung auf die quantitativen Gesetze der Atom- und Molekülphysik gelingt bisher nur in sehr einfachen Fällen.
Prof. Dr. Robert Schlögl, Chemiker
Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft



Im Zentrum der Theaterwissenschaft steht der Versuch, Aufführungen zu verstehen. Gegenstand ihrer Interpretationen sind daher sowohl die szenischen Vorgänge als auch die Interaktionen zwischen Akteuren und Zuschauern, darüber hinaus auch Probenprozesse, Texte aller Art (vom Dramentext über Kritiken und andere Quellen zu Aufführungen sowie theoretische Texte), Bilder und Videoaufzeichnungen.
Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte, Theaterwissenschaftlerin
Freie Universität Berlin



Sinn und Bedeutung von Zeichen bilden ‚Bausteine‘ von Kultur. Kultur – so scheint es – wurzelt in der Tätigkeit der Interpretation. Doch wissen wir, was die Ziffer 0 bedeutet, wenn wir rechnen? Kultur ist auch die Fähigkeit, von Bedeutungen absehen zu können. Nur weil wir mit der Sinnlichkeit und Handhabbarkeit der Zeichen jenseits ihres Sinns umgehen, kommen neue Bedeutungen auf die Welt, entsteht unverbrauchter Sinn. Darin wurzelt die Dynamik von Kultur.
Prof. Dr. Sybille Krämer, Philosophin
Freie Universität Berlin



Für die Philologie ist Interpretieren Grundlagenforschung: Untersuchung der bedeutungsgebenden Verfahren – von Texten und anderen kulturellen Bedeutungssystemen wie Gesten, sozialen Ritualen und Praktiken. Mithilfe potenziell endloser Fragen: Wer spricht, in welcher historischen Konstellation? Welches sind die rhetorischen und poetischen Gattungsmittel? Welches sind die blinden Flecken, welches die Symptome als Anzeichen für Ungeklärtes und Unausgesprochenes? Denn der Text „weiß“ stets mehr als sein Autor.
Prof Dr. Dr. h.c. Sigrid Weigel, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin
Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin



Eine umsichtige Interpretation zumal politischer Texte sieht nicht nur auf den Text, sondern auch auf seinen Kontext. Sie beachtet seine Überlieferungsgeschichte wie seine editorische Präsentation. Und schließlich fragt sie nach der Rezeption des Textes. Spätestens dann ist es vorbei mit der Eindeutigkeit. Wer interpretiert, begibt sich in ein Netz intellektueller Verstrickungen. Es ist schwer, daraus zu entkommen. So mancher vermeidet es darum, sich aufs Interpretieren einzulassen.
Prof. Dr. Herfried Münkler, Politikwissenschaftler
Humboldt-Universität zu Berlin



In der Theorie ist Interpretation die Anwendung einer Funktion, die, auf der Grundlage eines Modells einer Welt, den Sinn eines formalen Ausdrucks ermittelt.
Der Sinn einer Aussage bestimmt deren Wahrheitswert. Entsprechend gewinnt man durch Interpretation aus einer Beschreibung ein Objekt und aus einem Programm einen Prozess.
Prof. Dr. Bernd Mahr, Informatiker
Technische Universität Berlin



Die Besonderheit des Interpretierens besteht darin, dass es nicht einfach mit vorhandenen und fasslichen Objekten operiert. Da sich nämlich seine Gegenstände – Zeichen, Diskurse, Bilder, Artefakte – selbst stets interpretierend zur Welt verhalten, kann Interpretation nur das Interpretieren von Interpretationen bedeuten. Sie begreift ihre Gegenstände als flagrante Antworten, in denen verdeckte Fragen insistieren. Mit deren Freilegung rechtfertigt sich im Interpretieren ein komplizierender Sinn.
Prof. Dr. Joseph Vogl, Literaturwissenschaftler
Humboldt-Universität zu Berlin



Für Robert Koch war der Nachweis eines pathogenen Bakteriums gleichbedeutend mit dem Vorliegen einer Erkrankung. Heute wissen wir: Der bloße Erregernachweis reicht nicht aus. Es gilt, biologische Variation, statistische Abweichungen und Alter, Zustand oder genetische Disposition des Patienten zu berücksichtigen. Die Bewertung eines mikrobiologischen Befundes (Virulenz, Antibiotikaresistenz, Gefahr einer Epidemie oder Pandemie) ist für das ärztliche Handeln wesentlich.
Prof. Dr. Dr. Ulf Göbel, Mikrobiologe
Charité – Universitätsmedizin Berlin



Kunstwerke erwecken die Frage, ob sie der Deutung zugänglich sind oder ob ihre Eigengesetzlichkeit grundsätzlich unerreichbar ist. Für die erste Variante dreier möglicher Antworten ist das Kunstwerk ein System entschlüsselbarer Zeichen. Für die zweite ist das Kunstwerk so unerklärbar, dass jede Deutung einem eigenen kreativen Akt gleicht. Für die dritte treibt das Kunstwerk mit dem Interpreten ein inversives Spiel zwischen Deutungslust und Demut. In dieser Spannung kann Interpretation gelingen.
Prof. Dr. Horst Bredekamp, Kunsthistoriker
Humboldt-Universität zu Berlin